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Leben im „Hier und Jetzt“

Vögel am Himmel
valeriia-miller – Pexels

„Jetzt, die Kraft der Gegenwart“ ist ein 2009 erschienenes Buch, mit dem Eckart Tolle bekannt geworden ist und das sich alleine in Nordamerika über 3 Millionen Mal verkauft hat. Dieses Buch hat das Leben im „Jetzt“ ganz populär gemacht und betont, wie wichtig es ist im gegenwärtigen Moment verankert zu sein, statt in Gedanken über die Vergangenheit oder Zukunft. Auch die Praxis der Achtsamkeit will den Übenden im „Hier und Jetzt“ verankern und verkündet das „Hier-Jetz-Sein“ als Heilsversprechen bei Stress, Schmerzen und seelischem Leid. Das MBSR- Programm von Jon Kabat-Zinn, will mit einem 8-wöchigen täglichen Training die Übenden langfristig im „Hier und Jetzt“ verankern. Dabei wird auch der Alltag zum täglichen Übungsfeld. Die Vorstellung ist, bei dem was wir tun, ganz präsent zu sein.


Im „Hier und Jetzt“ zu sein braucht, so das Ansinnen, Übung und unser stetiges Bemühen. Die Aufgabe besteht darin, die Aufmerksamkeit immer wieder in diesen Moment zurückzubringen, was mal mehr, mal weniger gut gelingt.


Dass die Achtsamkeit- und Meditationspraxis so populär geworden ist, zeigt einen Mangel auf, unter dem der moderne Mensch leidet. Er erlebt sich als Getriebener der Zeit, mit einem chronischen Gefühl von Zeitmangel und einem chronischen Schlafmangel. Das heißt einfach er leidet unter Stress und den damit einhergehenden psychisch/körperlichen Erschöpfungssymptomen, die sich gemeinhin unter dem Begriff Burnout versammeln. Inzwischen haben die Depressionen und Angst -und Panikstörungen die Herz- und Kreislauferkrankungen unter den Krankmeldungen abgelöst.


Der so von der Zeit getriebene und von der Leistungsgesellschaft ausgebeutete Zeitgenosse brennt seelisch und körperlich aus und landet in einer Erschöpfungsdepression. So sucht er nach Linderung und Heilung. Stress ist der Krankmacher schlechthin.


Die Achtsamkeitspraxis verspricht hier Abhilfe. Sich im Hier- und - Jetzt zu verankern, soll helfen inne zu halten und der ausgebrannten Seele und dem erschöpften Körper, Oasen der Ruhe zu schaffen, damit der Leistungsträger stressresistenter wird und so weitermachen kann wie eh und je.

Die Achtsamkeitsmeditation wird seit Jahren wissenschaftlich untersucht Dazu werden Langzeitmeditierende verdrahtet und Gehirnscans unterzogen um die Veränderungen im Gehirn beweiskräftig und bildgebend nachzuweisen. Die Liste der aufgezählten Vorteile des Übens ist lang und kann in der einschlägigen Literatur nachgelesen werden.


Auch die Psychotherapie hat die Kraft der Achtsamkeit entdeckt und so üben sich immer mehr Menschen im Hier-und-Jetzt zu sein und ihre resilienten Ressourcen zu aktivieren um mit den immer schneller werdenden Abläufen unserer beschleunigten Gesellschaft mithalten zu können. Der deutsche Soziologe und Politikwissenschaftler Hartmut Rosa beschreibt den Zustand des heutigen Menschen mit jemanden, der auf einer sich abwärts bewegenden Rolltreppe steht. Er muss immer in Bewegung bleiben, will er nicht zurückbleiben oder abgehängt zu werden.


Mit der Achtsamkeitspraxis des Hier-und-Jetzt-Seins hat der moderne Leistungsmensch somit wieder ein neues Tool geschaffen um weiterhin leistungsfähig zu bleiben. Über sich und sein Menschsein hat er dabei nicht wirklich etwas erkannt.

Er verbleibt weiterhin als Hamster im Rad.



Braucht man eine Übung um hier und jetzt zu sein?


Wie weit kann ich mich denn überhaupt von hier und jetzt entfernen? Ist das überhaupt möglich?

Was meinen wir damit, wenn wir sagen, ich bin nicht hier. Wenn wir sagen, ich bin nicht hier und jetzt, meinen wir meistens damit, dass wir ganz vom Film unserer Gedanken absorbiert sind ohne das zu merken. Die meiste Zeit befinden wir uns in einer konzeptuellen Welt, gebildet durch Gedanken in Form von Überzeugungen, Vorstellungen, Bewertungen, Erwartungen, Befürchtungen. Diese Gedanken bilden unsere „Realität“, weil wir sie für real halten und sind uns meistens gar nicht bewusst. Wir halten sie für Tatsachen. So suggerieren uns Gedanken, dass es möglich sei, mit ihnen in die Zukunft zu gehen, als könnte man mit ihnen etwas kontrollieren und vorwegnehmen oder mit ihnen in die Vergangenheit zu reisen, als seien sie eine Zeitreisemaschine. So übersehen wir, dass Gedanken weder Realität abbilden noch Tatsachen sind und dass erst die Erfahrung von Zeit durch sie erschaffen wird. Zeit ist ein gedankeninduziertes Konstrukt, wobei bildliche Vorstellungen auch zum Vorgang des Denkens zählen.

Da Gedanken oft auch eine starke emotionale Ladung haben, wirkt die selbsterschaffene Illusion sehr real.


Ist es überhaupt möglich nicht hier und jetzt zu sein?

Es gibt nur Hier und Jetzt. Egal was die Gedanken suggerieren, eine Vergangenheit oder Zukunft ist nichts anderes als aus Gedanken gebildete Geschichten. Gedanken über die sogenannte Vergangenheit sind genau das, Gedanken, die hier und jetzt spontan auftauchen. So etwas wie die Vergangenheit ist nicht real existent. Genau das Gleiche gilt für die Zukunft. Gedanken, Vorstellungen von Morgen, Übermorgen, in ein paar Wochen oder einem Jahr sind lediglich Gedanken, die jetzt spontan erscheinen, auch wenn sie sich als gefühlsgeladenes sich sorgen erscheinen, sind sie deswegen nicht real. Real ist das, was ist und das ist immer hier jetzt.


Dem „Hier-und-Jetzt-Sein“ kann man nicht entkommen

Versuch mal nicht da zu sein. Egal was gerade geschieht oder erscheint, ob Gedanken, Visionen, Geräusche, Gefühle, Körperempfindungen, es ist immer hier-jetzt. Es gibt nichts anderes.

Gedanken ob über die Vergangenheit oder die Zukunft, sind lediglich Erscheinungen im „Hier- und- Jetzt“.

Das starke Verschmolzen sein mit diesem Gedankenfilm bringt viel seelisches Leid mit sich. Zu der Vergangenheit gehört auch die Geschichte, die wir darüber erzählen, wer wir sind und warum wir der geworden sind, der wir heut sind. Wer wir sind machen wir an den Erfahrungen und deren Interpretationen fest. Die Identität, die wir gebildet haben, beruft sich auf diese Erzählungen.


Ist hier und jetzt ein Punkt in Raum und Zeit?

Hier-Jetzt ist nicht lokalisiert in Raum und Zeit. Es ist immer hier-Jetzt. Hier-Jetzt ist zeitlose Ewigkeit. Hier Jetzt kann nicht verpasst werden. Was auftaucht im Hier-Jetzt-Sein kommt und geht. Aber egal was scheinbar im Hier-Jetzt-Sein auftaucht, es ist immer Hier-Jetzt, immer pure Gegenwärtigkeit, die niemals kommt und geht. Hier-Jetzt-Sein ist der bewegungslose Hintergrund, vor dem Bewegung scheinbar geschieht. Im Grunde genommen geschieht nichts wirklich. Es ist immer vollständig Hier-Jetzt. Alles darüber hinaus ist Denken.


Wer lebt im Hier und Jetzt?

Das es jemanden gibt, der im Hier-und-Jetzt leben könnte oder auch nicht, ist eine Illusion. Es gibt nur Hier-und-Jetzt und keiner der darin lebt. Hier und jetzt ist kein Container in dem Leben geschieht. Es gibt nur ungetrenntes Hier-Jetzt-Sein, das erscheint als das. Das Ich, das meint existent zu sein ist auch nichts anderes als eine Erscheinung. Die Trennung ist nicht real.


  • Wenn ich nicht im „Hier und Jetzt“ bin, wo bin ich dann?

  • Ist es möglich nicht hier und jetzt zu sein?

  • Versuche mal nicht hier zu sein.

  • Wer ist es, der im Hier und Jetzt ist?

  • Ist hier und jetzt ein Punkt in Raum und Zeit?

  • Gibt es etwas anderes als hier und jetzt?

  • Gibt es Zeit ohne Gedanken?

  • Braucht man eine Übung um hier und jetzt zu sein?

  • Was übt man, wenn man sich darin übt im „Hier und Jetzt“ zu sein?


Im Grunde genommen geht es darum die Aufmerksamkeit vom Denken abzuziehen.

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